Lange Autofahrten laden zu langem Nachdenken ein. Grieskirchen – Nußdorf, täglich einmal hin und zurück. Häufig nutze ich die Autofahrten, um abzuschalten und Radio zu hören. Oft denke ich aber auch noch über die Patientinnen und Patienten, die ich als Klinische Psychologin und Psychotherapeutin an der Station für Kinder- und Jugendpsychosomatik betreue, nach. Ich reflektiere deren Behandlungsverläufe, überlege mögliche nächste Schritte in meiner therapeutischen Arbeit mit ihnen, versetze mich emotional und mental in ihre Lage und die ihrer Eltern. Manchmal nutze ich die Autofahrten auch, um meine Wut abflauen zu lassen. Meine Wut über Ungerechtigkeiten, meine Wut über Benachteiligung und häufig meine Wut über Machtlosigkeit. Über Machtlosigkeit in einem System, das den Bedürfnissen von der „Norm“ Abweichenden oft nicht gerecht wird. Über Machtlosigkeit in einem System, das die Behandlung körperlicher Erkrankungen finanziell deckt, aber jene psychischer Erkrankungen nur zu einem beinahe verschwindend geringen Anteil. Und im konkreten Fall über die Machtlosigkeit, wenn eine Patientin oder ein Patient aus dem Krankenhaus entlassen wird, aber auf die dringend nötige Psychotherapie, die er oder sie unbedingt braucht und unbedingt will, um diese Phase der Instabilität gut bewältigen zu können, Monate warten muss. Meist konzentriere ich mich wieder auf das, was ich tun kann, was ich der Patientin oder dem Patienten noch während des stationären Aufenthalts anbieten kann, um die Wut wieder verfliegen zu lassen. Häufig wünsche ich mir aber eine Art imaginären Fonds herbei, mithilfe dessen ich den bedürftigen Patientinnen und Patienten zumindest das eine ermöglichen kann: einen nach der Entlassung möglichst zeitnahen Start ihrer Behandlung.
Eines Tages kommt die Idee an die Oberfläche. Was zuerst nur ein Hirngespinst ist, wird im Laufe der Autofahrten konkreter. Letztlich so konkret, dass ich zuhause auch mit meinem Mann, Oliver, darüber rede: ein Verein, der Therapiekosten für Kinder und Jugendliche mit psychischen Erkrankungen deckt. Auch er findet die Idee gut. Bei einem gemeinsamen Abendessen mit meiner Sandkastenfreundin Julia spreche ich die Idee an und frage sie – eher lapidar, noch wenig ernst – ob sie denn mitmachen wollen würde. Ja, sie wäre auf jeden Fall dabei. Aber die Idee bleibt vage. Der Alltag läuft dahin und die ersten Gedanken dazu verblassen wieder.
Plötzlich geschieht etwas, das uns aus dem Alltag reißt: Moria – Schreckensbilder von Not leidenden Flüchtlingskindern wandern durch das Internet und Corona – eine Pandemie, die unsere Normalität verändert. Eine Pandemie, die für die ältere Generation akute Gefahren und für die junge Generation Langzeitgefahren birgt. Langzeitgefahren, die vor dem Drängenden des Akuten ignoriert werden müssen. In dieser Zeit schreibt meine Freundin Julia eine kurze, aber folgenreiche Nachricht: „Lass uns das mit dem Verein machen, Mona. Ja?“ Und daraufhin kommt alles ins Rollen. Es rollt, wie ein Ball über einen Hang. Mit jedem Meter nimmt er zusätzliche Fahrt auf. Wir beschließen, dass wir im Advent schon Spenden sammeln wollen. Bis dahin muss alles stehen: Vorstand, Statuten, Social Media Auftritt, Homepage, eine transparente Handlungsanleitung, klare Richtlinien, wem, wann, welche Gelder zu Gute kommen. In einer langen Nacht sitzt Julia über den Statuten und arbeitet diese aus. Auch Oliver möchte die Idee unterstützen und erklärt sich bereit der Vereinskassier zu werden. Er fragt unsere gemeinsame Freundin Christina, ob sie seine Stellvertreterin sein will. Als große Ehre empfindet sie es, dabei sein zu dürfen. Was für ein Glück! In einem ersten virtuellen Treffen zu viert ackern wir die Vereinsstatuten durch. Kurze Zeit später folgen die erste Vorstandssitzung und viele Beschlüsse. Am nächsten Tag sind die Errichtungsanzeige für den Verein und die Statuten in einem Kuvert und auf dem Weg zur Vereinsbehörde. Und hier sind wir heute. Es liegt noch viel Arbeit vor uns. Und es fühlt sich gut an.
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